Zu Beginn beamt Frank Jöricke den Leser in die letzten drei Jahrzehnte, also in die 80er und 90er und die sogenannten „00er-Jahre“ hinein und identifiziert jeweils eine Art „Dekaden-Zeitgeist“ Foto:(c) Habib Hakimi
Der Zeitgeist ist nämlich vor allem eines: sehr flüchtig.
„Wer sich mit dem Zeitgeist verheiratet, wird bald Witwer“ –so treffend drückte es einst der dänische Philosoph Sören Kierkegaard aus. Der Zeitgeist ist nämlich vor allem eines: sehr flüchtig. Was heute „in“ ist, ist morgen schon wieder „out“. Ganz besonders gilt das für die so genannte „Populärkultur“, also all das, was in Musik, Mode, Film und Fernsehen jeweils den Ton angibt.
Wer heute die „In-Style“ aus dem Juni 2008 aufschlägt, oder den „Musikexpress“ aus dem März 2005, empfindet gewiss vieles, was damals noch als hip und „must have“ gefeiert wurde, längst als überholt, altmodisch, gestrig.
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Noch extremer wird dieses Gefühl, wenn man ein paar Jahrzehnte weiter zurückgeht. Also tief hinein in die 90er, 80er oder gar die 60er und 50er. Ein ganzer Kosmos von Trouvaillen der Populärkultur tut sich dort auf und man fragt sich unwillkürlich: „Was, das war mal en vogue?“ An vieles erinnert man sich gerne, anderes lässt einen hingegen geradezu erschaudern. So erging es auch dem Trierer Autor Frank Jöricke, der sich in seinem im Frühjahr erschienenen Buch als „Jäger des verlorenen Zeitgeists“ an genau diese Phänomene heranpirscht.
Herausgekommen ist eine humorvolle tour d’horizon. In 43 Kapiteln geht es quer durch die Dekaden, vom „Kommissar“ bis zu Madonna, von den „Vampire Diaries“ bis zu Stephan Sulke. Immer ironisch-bissig kommentiert, natürlich geprägt vom eigenen Geschmack des Autors. Den mag der Leser nicht immer teilen, aber das macht die Lektüre nicht weniger amüsant.
Die 80er – zwischen apokalyptischen Beschwörungen und säkularen „Wanderpredigern“
Zu Beginn beamt Jöricke den Leser in die letzten drei Jahrzehnte, also in die 80er und 90er und die sogenannten „00er-Jahre“ hinein und identifiziert jeweils eine Art „Dekaden-Zeitgeist“, also das Lebensgefühl, das diese Epochen prägte. Gleich das Anfangskapitel über die 80er gibt die Geisteshaltung des Autors vor. Man merkt schnell, dass dieser kein im Pathos schwelgender Gutmensch ist, der der großen Zeit der Ostermärsche nachtrauert.
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Nein, die 80er waren für ihn ein Ärgernis, eine nervige Zeit voller selbsterklärter Weltverbesserer, die ständig die Apokalypse durch Krieg, Atomkraft, Aids oder was auch immer an die Wand malten. Und darin den musikalischen „Wanderpredigern“ jener Jahre, nämlich Wolfgang Niedecken und Bono Vox, beharrlich folgten. Für Jöricke beides Sänger, die permanent „die Schlechtigkeit der Welt anprangerten“, „das Leben als Jammertal“ zeichneten und damit zwar kein „Wasser in Wein“, „aber Phrasen in Gold“ verwandeln konnten.
Positive Aspekte der „Verworrenheit“ der 90er
Ganz anders hingegen, nämlich eine Brachialerleichterung, waren für Jöricke die 90er, das „verworrene Jahrzehnt“, in dem die Welt nach dem Zusammenbruch des Kommunismus zwar komplizierter wurde, aber endlich Schluss mit der „Entweder-Oder“-Attitüde der 80er war. Und in dem Underground plötzlich zum Mainstream wurde, mit „Nirvana“ eine Independent-Combo an die Spitze der Charts schoss, noch dazu „mit Grunge, einem musikalischen Bastard aus Hardcore Punk und Metal“.
Und die 00er Jahre? Sind für Jöricke trotz zahlreicher Naturkatastrophen, Finanzkrisen und Terroranschlägen eine Zeit, in der die Leute unerschrockener agieren, kühler, illusionsloser. Und natürlich das Zeitalter, in dem das Internet seinen Siegeszug antrat, mit allen Vor- aber auch Nachteilen. Ausnahmslos gelungen sind die Vertiefungshinweise am Ende dieser, wie auch am Ende vieler anderer Kapitel. Zu den 80ern empfiehlt Jöricke Maxim Billers „Tempojahre“, zu den 90ern Judith Herrmanns „Sommerhaus“ und zu den 00er-Jahren Hans Weingartens Film „Die fetten Jahre sind vorbei“.
„Der Kommissar“ – die Antipode zum „Krimiklamauk“ und zur „Action“ unserer Tage
Fast fällt es schwer, aus dieser Masse von Zeitgeistphänomenen diejenigen herauszugreifen, die besonders gelungen sind. Denn davon gibt es nicht wenige. Auch stellt der Autor immer wieder den Bezug zum Hier und Jetzt her. Wer heute Sonntag abends den „auf Action getrimmten“ Til Schweiger als Tatort-Kommissar oder den „Krimiklamauk“ aus Münster erlebt, mag in der Tat kaum glauben, dass der von 1969 bis 1976 so beliebte „Kommissar“ mit Erik Ode als Kommissar Keller „niemals langweilig“ war, obwohl „das Höchstmaß an Rasanz“ dann erreicht war, wenn der Assistent Robert (Reinhard Glemnitz) „im Stile eines Aushilfs-Jerry Cotton über Jägerzäune hüpfte.“
Zugleich ist „Der Kommissar“ für Jöricke eine „Zeitgeiststudie“ schlechthin, in der die „Ermittlungstour“ immer auch ein Einblick in die bundesdeutsche Realität war, gepflastert von „Doppelmoral“ und „Exzess“, „Neurotikern“, „Nervenärzten“ und „Junkies“ aus „Wirtschaftswunder“-Elternhäusern. Gewissermaßen „der vielleicht letzte ernst zu nehmende Versuch des Fernsehens, in einer immer mehr zerfasernden Welt noch einmal klare Fronten zu schaffen.“
Keine Zeitgeistdiskussion ohne eine Betrachtung des Fernsehens
Und ja, vielleicht sind die Krimisujets tatsächlich ein Indikator für die zunehmende Preisgabe des ernsthaften Anspruchs, den zumindest das „Haushaltsabgaben“-finanzierte Fernsehen haben sollte. Überhaupt, das Fernsehen oder besser, dessen „langsames Sterben“ und zunehmende gesellschaftliche Irrelevanz beklagt Jöricke - der sonst nicht unbedingt zum Kulturpessimismus neigt - auch an anderer Stelle.
Für ihn hat vor allem das Privatfernsehen die „anfängliche Keckheit“ verloren, ist verzagt geworden. Selbst „alberne“ und „überdrehte“, aber dennoch immer überraschende Shows wie den „Kindergeburtstag“ für Erwachsene“, auch „Alles Nichts Oder“ genannt, oder „Samstag Nacht“ gebe es dort längst nicht mehr.
Stimmt, denkt man sich und möchte ergänzen, dass man stattdessen nunmehr alberne, dabei aber sterbenslangweilige Shows im öffentlich-rechtlichen Fernsehen sieht. Der Spritzigkeitsfaktor der jüngsten infantil-albernen Sommerausgabe von „Wetten, dass…?“ jedenfalls tendierte gegen null.
Auch der deutsche zeitgenössische Film kommt nicht allzu gut weg. Jöricke zählt fraglos zu der Schar derer, die „Keinohrhasen“ und „Zweiohrküken“ nicht wirklich euphorisieren. Viel eher hat er Sorge, dass nachfolgende Forschergenerationen, die das deutsche Kino des 21. Jahrhunderts betrachten, sich bis auf ganz wenige Ausnahmen wundern werden über Filme, die „ständig Emotionen beschwören, aber nie Gefühle zeigen“ oder Darsteller, die „unentwegt reden und doch nichts sagen.“
Ilja Richters „DISCO“ – wie ein Begriff eine ganz neue Bedeutung erhielt
Manche Themen Jörickes wie etwa die Erfolglosigkeit der Casting-Stars, die Facebook-Schelte, der Jugendkult Madonnas oder Sean Connerys kernige Männlichkeit sind vielleicht schon etwas abgehangen, aber andererseits kann man sie bei einer solchen Zeitgeist-Erforschungstour wohl auch nicht einfach ignorieren. Dafür sind andere Kapitel umso lustiger, erinnern an „Sternstunden“ der Populärkultur, denen oftmals etwas Groteskes innewohnt.
Wie etwa Ilja Richters „DISCO“, Lichtjahre entfernt von der englischen TV-Ikone „Top of the Pops“, in der sich die internationalen Stars die Klinke in die Hand gaben. Der Quotenkönig Richter hingegen, der „nie jugendlich“ wirkte, schon als 18-Jähriger grundsätzlich „im Zweireiher“ auftrat und sogar Tony Marshall und Heino in der Sendung hatte, gab dem „Wort DISCO eine völlig neue Bedeutung.“ Es sind Stellen wie diese, die Jörickes Buch zu einem heiteren Vergnügen machen. Man fragt sich, wie spießig unser Land eigentlich damals war.
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20 Jahre später, nämlich in den 90ern, setzte dann der Trend zur Übertreibung ein. Plötzlich füllten - was man ja am Liebsten verdrängen würde, Jöricke aber wieder in Erinnerung ruft - „Die drei Tenöre“ ganze Stadien mit „Potpourris aus Arien, Broadway-Melodien und Popsongs“. Und nicht lange dauerte es, bis Nachahmer wie Pilze aus dem Boden schossen. Aus drei wurden „erst fünf, dann zehn und irgendwann zwölf Tenöre“.
Und dann gibt es seit einigen Jahren auch noch den Trend zur Instant-Unterhaltung in Gestalt der vor allem zur Weihnachtszeit verbreiteten „Eventdinner“, auf die Jöricke ebenfalls mit Erstaunen blickt.
Die Rolle des Manns im Wandel des Zeitgeists
Immer wieder treibt den Autor die veränderte Rolle des Mannes um, also etwa die Frage, wie der Bond Sean Connerys, der „ungestraft raufte, rumtobte und Rabatz machte“, zum Bond Daniel Craigs wurde, der „weh- und selbstmitleidig herumirrt“. Oder wie es überhaupt zum heutigen Mann kommen konnte, der „einen Geburtsvorbereitungskurs besucht“, und „vom joggingtauglichen Hightech-Kinderwagen mit Alufelgen vorschwärmt“. Wer deshalb nun in Jöricke einen Ultramacho wähnt, irrt. Alice Schwarzer und der Feminismus werden ausdrücklich gelobt.
Und wer dessen Notwendigkeit bestreitet, soll sich Jöricke zufolge die in der prä-feministischen Zeit spielende Serie „Mad Man“ ansehen, in der „Frauen wahlweise betrogen, begafft oder begrabscht“ werden. Jöricke geht es also vor allem darum, dass der Feminismus nicht zur Feminisierung der Männer führen soll.
Man kann sich vorstellen, was der Autor von der neuesten Gender-Volte der Uni-Leipzig mit der Anrede „Herr Professorin“ hält, also von einer Sprache, die Alexander Kissler auf „cicero.de“ gerade erst ein „radikalfeministisches Herrschaftsinstrument zum Austrieb des Männlichen“ nannte.
Und wer denkt, hier tobe sich ein Kulturpessimist aus, hat ebenfalls Unrecht. Jöricke schwärmt nämlich auch von den „Helden des Zeitgeists“, den „Figuren, die uns die Welt erklären“, darunter die beharrlich dem Zeitgeist trotzende Hildegard Knef und der Württemberger Winzer Robert Bauer, der sich dem seit den 60ern regierenden Trend zur „Masse statt Klasse“ widersetze und viel dazu beitrug, dass deutsche Weine inzwischen wieder weltweit gefragt sind.
Helden des Zeitgeists sind für Jöricke also vor allem diejenigen, die sich nicht wie das Fähnchen im Wind vom nächstbesten Zeitgeist einfangen lassen. Ein ganz treffliches Fazit.
Dr. Liane Bednarz studierte Rechtswissenschaften in Passau, Genf und Heidelberg. Sie wurde 2005 zum Dr. iur. promoviert und arbeitet als Rechtsanwältin im Bereich "Mergers & Acquisitions". Liane Bednarz war Stipendiatin der Konrad-Adenauer-Stiftung.