Simone Kermes & Vivica Genaux: Zwei charismatische und stimmlich verschieden ausgeprägte Sängerinnen erinnern an die beiden Operndiven. © Gregor Hohenberg / Sony Classical
Album "Rival Queens" © Sony Classical
Eine Legende wird wiederbelebt. Eine Legende, die ebenso ungeheuerlich wie wenig verbürgt ist. Der Streit zweier Operndiven, der die Musikgeschichte nachhaltig prägen sollte: Am 6. Juni 1727 beschimpften sich die Primadonnen Francesca Cuzzoni und Faustina Bordoni auf offener Bühne des King's Theatre in London – angeblich. Hat das alles so, wie in zahlreichen Quellen beschrieben, tatsächlich stattgefunden? Gab es den Skandal wirklich?
Oder war es das erste wirklich belegte Resultat eines durch die ersten Vorläufer der später sich entwickelnden Massenmedien stimulierten Theaterskandals? Simone Kermes und Vivica Genaux gehen der Legende nun mit ihrem neuen Album „Rival Queens“ musikalisch auf den Grund, mit bisher noch nie eingespielten Arien und Duetten von Händel, Hasse, Giacomelli, Sarro und vielen weiteren Zeitzeugen jenes Vorfalls, den es womöglich nie gegeben hat.
Dass Cuzzoni und Brodoni Rivalinnen waren, steht außer Frage. Und so lautet die klare Behauptung der beiden Sängerinnen: Ja, natürlich hat es ihn gegeben, diesen Streit – und wir liefern nun ein musikalische Dokument dazu! Rivalität wird hier zur kreativen Kraft. Zwei charismatische und stimmlich verschieden ausgeprägte Sängerinnen erinnern an die beiden Operndiven, ohne die viele der nun erstmals eingespielten Arien und Duette womöglich nie geschrieben, geschweige denn übermittelt und für die Nachwelt erhalten worden wären. Simone Kermes und Vivica Genaux porträtieren Francesca Cuzzoni und Faustina Bordoni. Die Cappella Gabetta begleitet das musikalisch einzigartige Porträt, das für alle Beteiligten ein klares Bekenntnis ist zu der ebenso wunderbaren wie schwierigen Aufgabe unbekannte Opernwerke von barocken Meistern zu entdecken, aufzuarbeiten und einem breiten Publikum zugänglich zu machen.
Die italienische Mezzosopranistin Faustina Bordoni wurde am 30. März 1697 in Venedig geboren. Dort erhielt sie auch ihre künstlerische Ausbildung und feierte an den Theatern der Lagunenstadt erste Erfolge. 1718 stand sie erstmalig mit ihrer Rivalin Francesca Cuzzoni auf der Bühne. Georg Friedrich Händel holte sie ab 1726 nach London und schrieb für sie – wie auch für Cuzzoni – mehrere Opern. Letztendlich war es aber der Londoner Theaterskandal, der sie zu einem europaweit bekannten und gefeierten Star und in der Folge zu eine der bestbezahlten Sängerinnen Europas machte. Einen weiteren Karriereschub brachte ihr die Hochzeit mit dem Komponisten Johann Adolf Hasse im Jahre 1730 ein. Bis 1747 war sie dort unumstrittene Primadonna. Mit dem Engagement der Sängerin Regina Mingotti kam es erneut zu erbitterten Streitigkeiten, die erst mit dem Abschied Bordonis von der Bühne 1751 beigelegt werden konnten. Sie starb im hohen Alter von 84 am 4. November 1781 in Venedig.
Weit weniger Geschick in der Ausbeute der skandalbedingten Berühmtheit legte Francesca Cuzzoni an den Tag. Auch sie, ebenfalls von Händel nach London engagiert, konnte sich nach dem Vorfall im „Haymarket Theatre“ die Engagements europaweit aussuchen, pflegte aber einen solch aufwändigen und verschwenderischen Lebensstil, dass ihre Ersparnisse und auch die Einkünfte bald nicht mehr reichten. Die am 2. April 1698 in Parma geborene Sopranistin verschuldete sich so sehr, dass sie zweimal wegen ihrer Schulden sogar ins Gefängnis musste. Der Versuch, ihrer Karriere 1748 in London noch einmal neuen Schwung zu verleihen, scheiterte kläglich. Ihren Lebensunterhalt verdiente sie bis zu ihrem Tod im Jahre 1770 als verarmte Knopfmacherin in Bologna.
Wie auch immer sich der vermeintliche Theaterskandal abgespielt haben mag, es gibt zahlreiche musikhistorische Belege dafür, dass Streitigkeiten zwischen Sängerinnen und deren Konkurrenzempfinden keinesfalls als Ausnahme zu sehen sind. In der Spottschrift „The Rival Queens“ [„Die rivalisierenden Königinnen“] spielt sich eine offenbar in Anlehnung vom Streit zwischen Cuzzoni und Bordoni inspirierte Szene im Tempel der Zwietracht ab. Händel steht schicksalsergeben daneben, während die beiden Damen übereinander herfallen. Der Streit könnte auch als Vorlage für den Zank zwischen Lucy und Polly in „The Beggar's Opera“ [1728] von John Gay und Johann Christoph Pepusch und, auf dieser Ballad Opera fußend, dem Eifersuchtsduett der rivalisierenden Bräute in der „Dreigroschenoper“ [1928] von Bertolt Brecht und Kurt Weill gedient haben. In diesem Zusammenhang ist auch das Streitduett zwischen Marcellina und Susanna aus Mozats „Le nozze di Figaro“ zu sehen.
Während sich aber die Musikwissenschaft hinsichtlich der wahren Begebenheiten des barocken Theaterskandals und seiner Folgen noch in einer Grauzone bewegt, schaffen Kermes und Genaux nun Fakten. Sie liefern mit ihrem neuen Album nicht nur eine musikalische Hommage an einen sagenumwobenen und ebenso mysteriösen wie legendären Theaterskandal, der zwei Sängerinnen zu den berühmtesten ihrer Zeit werden ließ, sondern auch ein wichtiges Dokument von 12 Neueinspielungen, die ohne die Idee eines auf einem Streit basierenden Sängerinnenporträts in dieser Form womöglich niemals eingespielt und veröffentlicht worden wären.