Tierwohl ist in Deutschland, eher mehr gutes Marketing als wirklich „gutes Tierwohl”
Die Diskussion um eine gesellschaftlich akzeptierte Tierhaltung und die Bemühungen, diese zu erreichen, sind oft geprägt von dem Wunsch nach mehr Tierwohl:
Aldi will beispielsweise durch Auslistung der zwei unteren Haltungsstufen in seinen Filialen für mehr Tierwohl sorgen, Schlachthöfe etwa durch Modernisierung mehr Tierwohl erreichen und das Bundeslandwirtschaftsministerium hofft, durch die geplante Haltungskennzeichnung langfristig mehr Tierwohl zu erzielen.
Dabei ist der Begriff nicht klar definiert und wird kaum in seiner tatsächlichen Bedeutung hinterfragt, kritisiert die internationale Stiftung für Tierschutz VIER PFOTEN:
Er dient in der Regel dazu, uns jede noch so kleine Veränderung bei der Haltung von Tieren in der Landwirtschaft als Verbesserung in Richtung eines diffusen Wohlfühlfaktors zu verkaufen.
VIER PFOTEN Expertin Dr. Nora Irrgang erklärt, warum die Gefahr besteht, dass „Tierwohl” in der Haltung landwirtschaftlicher Tiere in Deutschland auch in Zukunft eher mehr gutes Marketing als wirklich „gutes Tierwohl” bedeuten könnte.
„Die Verwendung des Begriffs Tierwohl in der öffentlichen Debatte verzerrt die Realität und ist oft beschönigend. Tierwohl beschreibt den mentalen Zustand eines Tieres.
Also: Wie geht es dem Tier in einem bestimmten Moment in dessen Wahrnehmung? Dieser Zustand kann gut oder schlecht sein. Und er kann sich in kürzester Zeit ändern.
Ursachen dafür können beispielsweise Verletzungen, die Trennung von bevorzugten Sozialpartnern oder Krankheiten sein. Auch Transporte und Schlachthofaufenthalte sind Auslöser für massive Stress- und Angstzustände. Alle diese Faktoren führen zu einem negativen mentalen Zustand des Tieres, der für ein schlechtes Tierwohl steht.
Es gibt viele weitere Einflüsse auf das subjektive Wohlbefinden eines Tieres. Die Ausgestaltung und Größe von Ställen ist nur einer davon. Natürlich ist ein gutes Stallsystem z.B. mit ausreichend Platz und Beschäftigungsmöglichkeiten eine wichtige Grundvoraussetzung, für ein potenziell gutes Tierwohl.
Es ist hingegen falsch, anzunehmen, dass ein tiergerechteres Stallsystem automatisch auch zu gutem Tierwohl führt. Denn eine gute Wohnsituation ist auch beim Menschen kein Garant zum Glücklichsein, wenn Mobbing, Ängste, Trennung von wichtigen Sozialpartnern, Krankheiten oder permanente Schmerzen hinzukommen.
Das ist bei Tieren nicht anders. Die Rechnung, ein wenig mehr Platz und ein Spielzeug mehr, ergibt automatisch ein Mehr an Tierwohl, geht nicht auf.
Sicher ist hingegen, dass z.B. bei Schweinen oder Legehennen mit zu wenig Platz und ohne adäquate Beschäftigungsmöglichkeiten kein gutes Tierwohl erreicht werden kann.
Für ein gutes Tierwohl müssen neben der notwendigen Vorrausetzung eines guten Stallsystems auch viele weitere Variablen stimmen, die vor allem durch ein gutes Management und eine verantwortungsvolle Tierzucht bestimmt werden“, sagt Dr. Nora Irrgang, Expertin für Tiere in der Landwirtschaft bei VIER PFOTEN.
Faktoren, die u.a. das Wohlbefinden bei der Haltung von
Tieren in der Landwirtschaft beeinflussen:
Versorgung mit Nahrung und Wasser
Eine gute Ernährung ist Voraussetzung für das Wohlbefinden der Tiere. Dies bedeutet nicht nur, dass gutes Futter und sauberes Wasser angeboten werden, sondern auch, dass sichergestellt werden muss, dass wirklich jedes Tier in einer großen Gruppe dazu ungehinderten Zugang hat, ohne dass es dafür kämpfen oder voller Frust lange warten muss.
Bei den heutigen Hochleistungsrassen ist es den Tieren zudem teilweise unmöglich, ausreichend Futter zu sich zu nehmen, um den enormen Bedarf für z.B. hohe Lege- oder Milchleistung zu decken. Milchkühe oder Legehennen sind deshalb oft unterernährt.
Dies äußert sich beispielsweise in Stoffwechselstörungen, Abmagerung oder Osteoporose, mit daraus folgenden Knochenbrüchen. Auch das Immunsystem im Allgemeinen leidet unter Unterernährung, Fehlernährung (z.B. Mangel an Raufutter) und Mangelzuständen, was die Entstehung schmerzhafter Krankheiten begünstigt.
Schlechte Haltungsbedingungen verhindern das Ausleben arteigener Verhaltensweisen und führen zu sozialem Stress
Tiere in der Landwirtschaft werden meist auf viel zu wenig Platz gehalten, um darin ihre arteigenen Bedürfnisse ausleben zu können.
So werden etwa auch heute noch in Deutschland Hunderttausende Kühe in Anbindehaltung gehalten. Bewegungs-, Komfort- sowie Sozialverhalten werden so fast komplett verhindert.
Die Tiere können in so einer Haltung weder laufen noch sich umdrehen, sich nicht kratzen oder scheuern und können auch keine normalen Sozialkontakte mit Artgenossen ausführen.
Aber auch mit Laufstallhaltung kommen die meisten Milchkühe in Deutschland nicht auf die Weide. Mastbullen verbringen ihr Leben üblicherweise in engen Vollspaltenbuchten ohne weiche Liegeflächen.
Hundert Kilogramm schweren Mastschweinen stehen in der deutschen Intensivlandwirtschaft durchschnittlich 0,75 Quadratmeter Platz perforierter Betonboden als ausschließlicher Lebensraum zur Verfügung.
Zuchtsauen werden über Wochen in einem körperengen Metallkäfig (Kastenstand), ebenfalls auf perforierten harten Böden und ohne Einstreu gehalten. Ihr natürlicher Nestbautrieb kann so genauso wenig ausgelebt werden, wie ein natürliches Verhalten zwischen den Ferkeln und der Muttersau.
In der Natur sind Schweine den Großteil ihrer Aktivitätszeit auf Nahrungssuche – das dabei typische Wühlen können die Tiere in landwirtschaftlichen Haltungen auf Betonspaltenboden nicht ausführen.
Dies führt nicht nur zu Langeweile und Bewegungsmangel, sondern auch oft zu Frust, der wiederum auch an anderen Tieren ausgelassen wird und so zu sozialem Stress in den Gruppen beiträgt.
Besonders rangniedere Tiere leiden oft sehr unter solchen Bedingungen und somit unter chronischem Stress. Sie magern ab und erleiden oft Verletzungen, was sie auch empfänglicher für Krankheiten macht.
Fazit
„Wir begrüßen die geplante Kennzeichnung für die Haltung von Tieren in der Landwirtschaft und die immer lebhaftere öffentliche Diskussion zum Tierwohl.
Aber das oftmals suggerierte Mehr an Tierwohl existiert in der Realität nur, wenn dies in guten Haltungssystemen beständig mit gutem Management Tag für Tag neu erarbeitet wird.
Die in den Labels aufgeführten Indikatoren und die diskutierten Maßnahmen greifen maximal Teilaspekte von all dem auf, was in Tierhaltungen für mehr Tierwohl sorgen kann.
Für mehr Tierwohl wäre ein Paradigmenwechsel nötig und kein Herumdoktern am bestehenden System. Vielmehr muss der tatsächliche Zustand der Tiere und das Verhalten selbst als Gradmesser für das Wohlbefinden herangezogen werden.
Nur so könnten Betriebe auch ihre täglichen Bemühungen um gutes Management darstellen. Dieses ist oft teuer und aufwendig und macht letztlich den Unterschied zwischen einem guten Betrieb und einem schlechten aus.
Immer wenn der Begriff Tierwohl im Handel auftaucht, muss man sich darüber bewusst sein, dass das tatsächliche Wohlergehen der Tiere heute nirgendwo in Label einfließt und diese gerne als Beruhigungsmittel oder Marketinginstrument benutzt werden.
Damit wird fälschlich suggeriert, dass „gutes Tierwohl” auch in der industriellen Landwirtschaft möglich wäre, wenn man nur an ein paar kleinen Stellschrauben dreht. Das ist oft ein Trugschluss“, so Dr. Irrgang.